Cover
Titel
Die Macht der Diaspora. Die unbekannte Geschichte der Emigranten in Deutschland seit 1945. Aus dem Englischen von Michael Adrian und Heide Lutosch


Autor(en)
Clarkson, Alexander
Erschienen
Anzahl Seiten
432 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Thaden, Museum Europäischer Kulturen – Staatliche Museen zu Berlin

Wie lassen sich gesellschaftlicher Wandel und die damit verbundenen Auseinandersetzungen durch die Perspektive der Migration verstehen? Seit einiger Zeit wird dieses Anliegen der postmigrantischen Geschichtsschreibung nicht mehr nur mit Blick auf alltags- und kulturhistorische Phänomene verhandelt. Auch die Sozial- und Politikgeschichte interessiert sich immer mehr dafür, wie Migrant:innen und ihre politischen Praktiken die Debatten und Entwicklungen in der Bundesrepublik beeinflussten.1 Wenngleich ohne expliziten Bezug auf diese Arbeiten, reiht sich auch Alexander Clarksons Studie „Die Macht der Diaspora. Die unbekannte Geschichte der Emigranten in Deutschland seit 1945“ in dieses neuere Forschungsinteresse ein. In fünf inhaltlichen Kapiteln widmet sich der Historiker vom Londoner King’s College verschiedenen Einwander:innen-Nationen und ihren politischen Aktivitäten in der Bundesrepublik.

Wie es der Titel schon nahelegt, nimmt der Begriff „Diaspora“ eine zentrale Rolle zur Definition der Gruppen ein, um die es in diesem Buch geht. In einem einleitenden methodologischen Kapitel destilliert Clarkson drei Merkmale heraus, die er für Diasporagruppen als zentral erachtet: die Selbstidentifizierung als eine solche Gruppe, was vor allem mit einem geteilten Repertoire kultureller Praktiken einhergehe; der symbolisch vermittelte Bezug zum Herkunftsland, der eine Vorstellung kollektiver Identität aufrechterhalte; sowie die Pflege tatsächlicher grenzüberschreitender Verbindungen. Es geht Clarkson mithin um politische Projekte, die auf ein bestimmtes Herkunftsgebiet abzielen. Zugleich betont er, dass sie zahlreiche Spuren in der deutschen Politik und Gesellschaft hinterlassen hätten.2 So betrachtet er politische Emigrant:innen und ihre multiplen Loyalitäten auch als ein weiteres Irritationsmoment der „Lebenslüge von der homogenen Gesellschaft“ (S. 11). Sie seien als wesentlicher Teil bundesdeutscher Geschichte und Identitätsbildung nach 1945/49 zu begreifen. Eine moderne Einwanderungsgesellschaft müsse deshalb nicht zuletzt ein „größeres öffentliches Bewusstsein für die politischen Ereignisse in den Herkunftsländern“ entwickeln (S. 362).

Clarkson führt dies anhand verschiedener politischer Emigrationsgruppen aus. Während er in einer seiner vorherigen Publikationen auch die Griech:innen in der Bundesrepublik behandelte3, werden von solchen mehr oder weniger in Vergessenheit geratenen Akteur:innen in diesem Buch nur noch Exilant:innen aus Kroatien und anderen Teilrepubliken des ehemaligen Jugoslawiens mit einem eigenen Kapitel bedacht. Im Gegensatz dazu dürften die meisten Leser:innen eine Vorstellung von „arabischen Diasporagruppen“ oder von der „türkischen und kurdischen Diaspora“ haben. Vor allem die Kapitel über die iranische und die ukrainische Emigration offenbaren zudem die ungebrochene Aktualität des Themas: Als Lobbyist:innen der jeweiligen Konfliktparteien war und ist ihnen daran gelegen, die Aufmerksamkeit in der Bundesrepublik zu lenken und die Konflikte ihrer Heimatländer aktiv mitzugestalten. Derartige Projekte sind eingebunden in ein komplexes Netz von gesellschaftlichen Akteur:innen in Deutschland sowie im Herkunftsland. Diese Strukturen jeweils nachzuzeichnen und damit auch Kriterien ihres Scheiterns oder Gelingens zu bestimmen, ist eines der Ziele der vorliegenden Arbeit.

Jedem Kapitel ist eine anekdotische autobiografische Hinführung zur entsprechenden Diasporagruppe vorangestellt, sodass die Leser:innen etwa von Clarksons Aufwachsen in Emigrant:innen-Kreisen der ukrainisch-orthodoxen Kirche erfahren. Hierauf folgt ein knapper historischer Abriss der jeweiligen Nationsbildungsprozesse. Den anschließenden Hauptteil bilden die Entwicklungslinien, Allianzen und Grabenkämpfe im Exil, von denen jede der in diesem Buch behandelten Gruppen maßgeblich geprägt wurde. Dabei bezieht der Autor stets auch die größere Kontexte ein; er analysiert die Konsequenzen der bundesdeutschen Politik und der Entwicklungen im Herkunftsland, welche die Diasporagruppen in jeweils spezifischer Weise beeinflussten: Während Clarkson bei türkeistämmigen Personen vor allem den ideologischen Konflikt zwischen der türkischen und der kurdischen Diasporagemeinschaft auch in der Bundesrepublik als maßgeblich ansieht, sei bei iranischen Aktivist:innen deren gute Vernetzung innerhalb eines akademischen Milieus charakteristisch gewesen.

Bei arabischen Diasporagruppen ist ein solches Urteil aufgrund der extremen Heterogenität schwer zu formulieren. Von algerischen Student:innen während des Unabhängigkeitskriegs über palästinensische Aktivist:innen bis zu syrischen Kriegsflüchtlingen und libanesischen Clanstrukturen kommen hier viele Akteur:innen und Phänomene zur Sprache. Was sie offenbar eint, war und ist die Exotisierung seitens großer Teile der deutschen Gesellschaft und Medien, gepaart mit dem Label des „Arabers“. Der Blick auf Diaspora-Akteur:innen aus dem ehemaligen Jugoslawien hingegen zeige, wie diese Gruppen als Katalysatoren bestehender Konflikte in den Herkunftsländern hätten wirken können. Im Falle der kroatischen Emigration suggeriert Clarkson gar eine erfolgreiche Lobbyarbeit vor dem Hintergrund des Unabhängigkeitskriegs, die mit einer „unterschwelligen Sympathie für die kroatische Sache“ auf verschiedenen politischen Ebenen korreliert habe (S. 262). Die ukrainischen Gruppen in Deutschland seien wiederum sehr stark vom Verhältnis der Bundesrepublik zur Sowjetunion geprägt gewesen. Besonders die Politik der Détente ab den 1970er-Jahren sorgte ihnen gegenüber für taube Ohren. Auch nach dem Zusammenbruch der UdSSR wurde die Ukraine-Politik den Beziehungen zu Russland eindeutig untergeordnet. Bis heute, so Clarkson, sorge dies aufseiten ukrainischer Diaspora-Vertreter:innen für ein anhaltendes Misstrauen, was die Ernsthaftigkeit deutscher Politik angeht.

Besonders erhellend an der Studie sind die Gemeinsamkeiten, die in jedem Kapitel aufscheinen. So legt Clarkson etwa einen Opportunismus auf Seiten der bundespolitischen Akteur:innen offen, der gruppenübergreifendend galt. Häufig war dieser auch von den manichäischen Feindbildern während des Kalten Kriegs bestimmt. Besonders im Fall der ukrainischen, aber auch der kroatischen, iranischen und türkischen Exilcommunities wird zudem deutlich, wie die Bundesregierung mit Blick auf diplomatische Stabilität und vermeintliche Antiradikalisierung im Zweifel die Allianz mit den autoritären Regierungen der Herkunftsstaaten suchte. Für den iranischen Fall ist hinlänglich aufgearbeitet worden, wie die bilateralen Beziehungen zum Schah-Regime den Anliegen der Opposition vorgezogen wurden. Auch dem türkischen Staat wurden nach dem Militärputsch des Jahres 1980 weitreichende Kompetenzen in der Organisation des Alltagslebens von Migrant:innen zugestanden. Dass hier ein Raum entstand, den radikale Kräfte später äußerst effektiv für sich nutzen konnten, war ein Resultat dieser Politik. Sie stellte auch eine Folge zum Teil haarsträubender Unkenntnis der Behörden gegenüber den in der Bundesrepublik aktiven Diasporagruppen dar.

Einige der in dieser Hinsicht noch immer verbreiteten Wissenslücken kann Clarkson mit seiner Studie füllen. Unverständlich bleibt jedoch, warum die zahlreichen Gemeinsamkeiten zwischen den Diasporagruppen sowie die Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Rezeption ihrer Betätigung kaum synthetisiert werden. Auch vermisst man letztlich gemeinsame Fragen, die die Fallstudien analytisch zusammenhalten könnten. So räsoniert der Autor in Einleitung und Schlusskapitel stattdessen eher grundsätzlich über den migrantischen Beitrag zur deutschen Identität. Dass Exil-Aktivist:innen hier eine bislang unterbelichtete Rolle spielten, ist unbenommen. Es wäre allerdings interessant gewesen, genauer zu erfahren, wie dieser Einfluss beschaffen war bzw. auf welchen Ebenen wir ihn analysieren können. Immer wieder gewinnt man den Eindruck, dass ein dezidiert lokalgeschichtlicher Zugang sich hierfür als sehr fruchtbar erwiesen hätte (S. 76, S. 125, S. 179). Eher fasst Clarkson jedoch die größeren Entwicklungslinien der jeweiligen Einwanderungsgruppen zusammen.

Diese Schieflage mag auch mit der in den fünf Kapiteln sehr unterschiedlichen empirischen Basis zusammenhängen: Neben der Forschungsliteratur wurden vor allem staatliche Quellen herangezogen, insbesondere aus dem Archiv des Auswärtigen Amts und aus den Landesarchiven in Berlin, Bayern und Niedersachsen. In den Abschnitt zu Exilkroat:innen flossen zudem Akten des Bundesinnenministeriums ein. Das Kapitel zu ukrainischen Gruppen wiederum kommt ganz ohne Archivquellen aus. Angesichts des zeitlichen Fokus, der bis zum Beginn des russischen Angriffskriegs reicht, ist das nachvollziehbar. Ein einheitliches Quellenkorpus hätte dennoch helfen können, klare Kriterien einer konsequent vergleichenden Studie herauszuarbeiten.

Eine ähnliche Unklarheit ist mit Blick auf die Akteur:innen der Studie zu konstatieren: Geht es zu Beginn jedes Abschnitts noch eindeutig um Aktivist:innen, die als politisch Geflüchtete von der Bundesrepublik aus gegen die Regime ihrer Herkunftsstaaten arbeiteten, zerfasert dieser Fokus im Laufe der Kapitel, und immer mehr Akteur:innen kommen in den Blick. Selbst bei der sehr weit gefassten, eingangs skizzierten Definition von „Diaspora“ ist erklärungsbedürftig, warum Gruppen wie die migrantische Selbstorganisation der „Antifa Gençlik“ („Antifaschistische Jugend“) hierunter fallen sollten, war ihre Aktivität doch gerade nicht auf das vermeintliche Herkunftsland gerichtet. Wenn in Deutschland aufgewachsene Personen wie die Politikjournalistin Isabel Schayani oder der Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir als Repräsentant:innen (und Aushängeschilder) ihrer jeweiligen „Diasporagruppe“ dargestellt werden, drängt sich zudem die grundsätzliche Frage nach der Tragfähigkeit des Konzepts auf (S. 86, S. 143). Zu sehr scheint der Studie bisweilen ein essenzialisierendes Verständnis von „Diaspora“ zugrunde zu liegen, statt dies als politischen Claim ethnonational agierender Akteure herauszuarbeiten.4

Ungeachtet dieser Kritikpunkte stellt Alexander Clarksons Buch eine konzise und lesenswerte Zusammenführung der politischen Aktivitäten mehrerer großer Migrant:innen-Gruppen dar. Die Bewegungs- und Protesthistoriografie in der Bundesrepublik wird an der Monografie kaum vorbeikommen. In weiteren Forschungen wird jedoch zu zeigen sein, inwiefern Exil-Aktivist:innen, die bei Clarkson im Vordergrund stehen, tatsächlich Einfluss auf die Lebenswelt der Millionen von Migrant:innen in der Bundesrepublik hatten. Waren sie und ihre politischen Projekte wirklich maßgeblich für die Entstehung einer Einwanderungsgesellschaft? Wie weit her ist es angesichts ihrer vergleichsweise geringen Anzahl mit der „Macht der Diaspora“? Antworten darauf bleibt das Buch letztlich schuldig.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Simon Goeke, „Wir sind alle Fremdarbeiter!“ Gewerkschaften, migrantische Kämpfe und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland der 1960er und 1970er Jahre, Paderborn 2020. Ausführlich zur postmigrantischen Geschichtsschreibung: Maria Alexopoulou, Vom Nationalen zum Lokalen und zurück? Zur Geschichtsschreibung in der Einwanderungsgesellschaft Deutschland, in: Archiv für Sozialgeschichte 56 (2016), S. 463–484, https://library.fes.de/pdf-files/afs/bd56/afs56_20_alexopoulou.pdf (22.02.2023).
2 Man könnte die Arbeit insofern als Teil der in klassischen Einwanderungsländern schon länger etablierten Forschungen zur Ethnic Foreign Policy sehen; vgl. u.a. Thomas Ambrosio (Hrsg.), Ethnic Identity Groups and U.S. Foreign Policy, Westport 2002.
3 Alexander Clarkson, Fragmented Fatherland. Immigration and Cold War Conflict in the Federal Republic of Germany, 1945–1980, New York 2013. Siehe dazu die Rezension von Peter Ridder, in: H-Soz-Kult, 03.03.2014, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-19300 (22.02.2023).
4 Vgl. hierfür grundlegend Rogers Brubaker, The ‚Diaspora‘ Diaspora, in: Ethnic and Racial Studies 28 (2005), S. 1–19, hier S. 10ff.